ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung) ist eine neurobiologische Besonderheit, die oft mit Kindern und Jugendlichen in Verbindung gebracht wird. Doch ADHS bleibt sehr häufig auch im Erwachsenenalter bestehen und wird oft sogar erst in dieser Lebensphase überhaupt diagnostiziert. Als Psychologin und Psychotherapeutin, die sich auf ADHS im Erwachsenenalter spezialisiert hat, werde ich häufig gefragt, wie so eine ADHS-Diagnostik im Erwachsenenalter überhaupt abläuft. Die korrekte Diagnosestellung bei Erwachsenen ist entscheidend, um angemessene Unterstützung und Behandlungsmöglichkeiten zu bieten.
In diesem Artikel werden wir den Diagnoseprozess der ADHS bei Erwachsenen genauer betrachten. Dieser läuft jedoch erfahrungsgemäß in den psychotherapeutischen und psychiatrischen Praxen, Spezialsprechstunden und Kliniken nicht immer gleich ab, was häufig zu Verunsicherung bei den Hilfesuchenden führt.
Bei meiner Beschreibung orientiere ich mich an der S3-Leitlinie ADHS bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen. Diese medizinische Leitlinie wurde von verschiedenen Fachgesellschaften und Experten entwickelt und soll Fachleuten als Handlungsempfehlung für die Diagnostik und Therapie der ADHS dienen. Die Leitlinie befindet sich aktuell in Überarbeitung.
Ich hoffe, dass euch dieser Artikel hilfreiche Informationen und Einblicke in die Diagnostik der ADHS im Erwachsenenalter bietet.
Lasst uns also tiefer in den Diagnoseprozess der ADHS bei Erwachsenen eintauchen!
Wer kann eine ADHS-Diagnose stellen?
Die Diagnosestellung einer ADHS erfordert eine umfassende klinische Beurteilung durch eine*n Diagnostiker*in. Bisher gibt es nämlich nicht den einen Test oder biologische Marker, anhand derer wir ADHS “messen” können.
Folgende Berufsgruppen können ADHS bei Erwachsenen diagnostizieren:
Wichtig ist, dass die Diagnostiker*innen über Erfahrung in der Diagnostik und Behandlung von ADHS bei Erwachsenen verfügen und das nötige Fachwissen haben, um ADHS-Symptome bei Erwachsenen zu erkennen, andere mögliche Ursachen auszuschließen und eine fundierte Diagnose zu stellen. In der Realität gibt es nämlich leider auch in Fachkreisen Wissenslücken und Vorurteile gegenüber ADHS, was die Suche nach Fachpersonen für eine Diagnostik leider erschwert.
Wie läuft eine Diagnostik ab?
Die Diagnostik einer ADHS im Erwachsenenalter kann eine komplexe Aufgabe sein, da sich die Symptome im Laufe der Zeit verändern und mit anderen psychiatrischen Störungen überlappen können. Zudem können auch andere Ursachen (z.B. andere psychische oder körperliche Erkrankungen) hinter den berichteten Symptomen stecken.
Daher ist es wichtig, sich ein umfassendes Bild zu machen. Der genaue Ablauf einer ADHS-Diagnostik im Erwachsenenalter läuft erfahrungsgemäß nicht immer gleich ab. Die S3-Leitlinie zur Diagnostik und Behandlung der ADHS empfiehlt, folgende diagnostische Schritte routinemäßig in der Diagnostik einzusetzen:
Anamnese - die umfassende Informationssammlung
Der Diagnoseprozess beginnt meist mit einem ausführlichen Gespräch zwischen dem*r Patient*in und dem*r Diagnostiker*in. Auch Bezugspersonen und Dokumente aus dem Kindesalter (z.B. Berichte, Zeugnisse) können - wenn verfügbar - hierfür einbezogen werden. Diese umfassende Informationssammlung ist der zentrale Ausgangspunkt der Diagnostik und sollte folgende Bereiche umfassen:
Verhaltensbeobachtung in der Untersuchungssituation
Diagnostiker*innen sollen in der Untersuchungssituation aufmerksam sein, um eventuell ersichtliche ADHS-Symptome zu erkennen. Im persönlichen Kontakt können verschiedene Anzeichen einer ADHS auffallen. Aus meiner Praxiserfahrung können das z.B. Probleme bei der Terminkoordination, Zuspät- oder Zufrühkommen, starke motorische Unruhe oder innere Anspannung, schnelles, sprunghaftes Reden, viele Gedankenassoziationen, Vergessen von Fragestellungen und vieles mehr sein.
Wichtig: Diese Anzeichen müssen nicht (und besonders nicht im ersten Kontakt) vorkommen, denn viele Menschen mit ADHS haben gelernt, ihre Symptome zu verstecken und sich anzupassen (Masking). Fachpersonen mit Wissen über ADHS im Erwachsenenalter können jedoch auch im Gespräch häufig Anzeichen erkennen, die eine Diagnose stützen.
Gesamtbeurteilung der Symptomatik und körperliche Untersuchung
Die im Gespräch mit den Patient*innen gesammelten Informationen sollen zusammengetragen und in der Gesamtheit von dem*r Diagnostiker*in beurteilt werden. Auch eine körperliche Untersuchung soll stattfinden, um körperliche Erkrankungen als Verursachung der ADHS-Symptomatik auszuschließen. Wenn die Diagnostik bei einem*r Psychologischen Psychotherapeut*in stattfindet, muss die körperliche Untersuchung bei einem*r Ärzt*in erfolgen.
Um eine ADHS-Diagnose stellen zu können, müssen die Symptome den diagnostischen Kriterien des DSM-5 (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, 5. Auflage) oder der ICD-11 (Internationale Klassifikation der Krankheiten, 11. Revision) entsprechen.
Die Kriterien umfassen die Kernsymptome der ADHS wie Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität, die über einen längeren Zeitraum andauern und in verschiedenen Lebensbereichen beeinträchtigend sind. Wichtig ist hierbei auch, dass Kompensations- und Copingmechanismen und eher unscheinbare Anzeichen sowie der Leidensdruck der Menschen ernst genommen werden.
Auch ist es wichtig, weitere im Erwachsenenalter häufig vorkommende zusätzliche ADHS-typische Symptome (u.a. Schwierigkeiten mit der Emotionsregulation, Desorganisation, Stressintoleranz) einzubeziehen.
Welche Rolle spielen Fragebogenverfahren und neuropsychologische Tests in der Diagnostik der ADHS bei Erwachsenen?
Als Ergänzung der oben genannten Bestandteile der Diagnostik können die im Gespräch berichteten Beschwerden sowie weitere koexistierende Symptome mithilfe von Fragebögen objektiv abgebildet werden. Es gibt verschiedene, evaluierte Fragebögen zur Diagnostik der ADHS bei Erwachsenen, welche von den Patient*innen und Angehörigen ausgefüllt werden können. Dabei werden die aktuelle Symptomatik und rückblickend auch Symptome in der Kindheit erfragt. Oftmals setzen Diagnostiker*innen auch strukturierte diagnostische Interviews ein. Zusätzlich zu den ADHS-spezifischen diagnostischen Instrumenten werden außerdem häufig Fragebögen zur Erfassung weiterer psychischer Störungen eingesetzt.
Die Fragebögen und diagnostischen Interviews basieren auf wissenschaftlichen Erkenntnissen. Sie wurden entwickelt, um die Diagnostik von ADHS im Erwachsenenalter zu unterstützen und eine differenzierte Diagnosestellung und eine gezielte Behandlungsplanung zu ermöglichen.
Es kann jedoch vorkommen, dass die Fragebogenergebnisse kein eindeutiges Bild abbilden. Dafür gibt es unterschiedlichste Gründe, z.B. wenn die Symptomatik nicht dem “klassischen Bild”, also der deutlich hyperaktiven Symptomatik entspricht oder die Person bereits sehr viele ihrer Schwierigkeiten kompensiert hat.
Wichtig ist deshalb, die im Gespräch gewonnenen Informationen einzubeziehen und Unklarheiten abzuklären. Eine Diagnose sollte nicht ausschließlich auf der Grundlage von Fragebogenergebnissen gestellt oder verworfen werden.
Neuropsychologische Testverfahren können ebenfalls ergänzend in der Diagnostik eingesetzt werden, sind jedoch weder notwendig noch ausreichend, um eine Diagnose zu stellen.
Zusammenfassung
Zu guter Letzt ist es wichtig, zu betonen, dass der Diagnoseprozess individuell angepasst werden kann und variieren kann, unter anderem aufgrund der Bedürfnisse und Symptome der einzelnen Patient*innen sowie der spezifischen Ausstattung und den Ressourcen der Diagnostiker*innen.
Die Leitlinie, welche sich aktuell in Überarbeitung befindet, kann Diagnostiker*innen als Leitfaden dienen, um eine fundierte Diagnose zu stellen.
Die klinische Beurteilung der Diagnostiker*innen ist der zentrale Bestandteil der Diagnostik, daher ist es ratsam, sich an Fachpersonen zu wenden, die Erfahrung und Fachwissen in der Diagnostik von ADHS bei Erwachsenen haben.
Hier plädieren wir auch insbesondere an Universitäten und Aus- und Weiterbildungsinstitute, damit mehr Ärzt*innen und Psychotherapeut*innen diese wichtigen Kompetenzen in ihrer Ausbildung erwerben können, was dazu beitragen kann, die Versorgungslage zu verbessern.
Wir hoffen, wir konnten dir einen Überblick über den Ablauf der Diagnostik der ADHS bei Erwachsenen geben.
Wenn du noch auf der Suche nach einem Termin zur Diagnostik bist und/oder dein*e behandelnde*r Ärzt*in oder Psychotherapeut*in keine Diagnostik vornimmt, ist es möglich bei uns eine diagnostische Einschätzung vornehmen zu lassen.
Mehr Infos findest du auf unserer Website zum Thema ADHS Testung und diagnostische Einschätzung.
Für Fragen oder Anregungen, melde dich gerne bei uns per E-Mail kontakt@activemind-adhscoaching.de
Quellen:
Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) (2017): Langfassung der (S3) Leitlinie “ADHS bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen”, https://register.awmf.org/de/leitlinien/detail/028-045
APA (American Psychiatric Association) (2015). Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen DSM-5® (2. korrigierte Auflage). Göttingen: Hogrefe.
World Health Organization. (2022). ICD-11: International classification of diseases (11th revision). https://icd.who.int/
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